„Richte dich ein. Und halte den Koffer bereit.“
Das Leben der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko war geprägt vom Ankommen im Vorläufigen – von Flucht, Verlust und einer ewigen Suche nach Heimat. In ihren Versen mischen sich scharfsinnige Satire, feine Ironie und tiefe Melancholie. Ihre Gedichte erzählen vom Exil, von der Liebe, vom Heimweh – und davon, wie man auf den Trümmern der Heimat Worte baut.

Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach
Ein gemeinsamer Ursprung
Vor etwa 12.000 Jahren wurden die Menschen sesshaft. Bis dahin lebten sie als Nomaden – in ständiger Bewegung, geprägt von Flucht, Vertreibung und dem ständigen Suchen nach neuen Lebensräumen. Erst mit der Sesshaftigkeit, mit dem Ackerbau und festen Siedlungen, bekam die Erde einen festen Besitzer. Erst dann wurde Heimat zu etwas, das man verlieren konnte – und Heimatlosigkeit zur Bedrohung.
Diese Erfahrung – die Angst, die Heimat zu verlassen oder zu verlieren – markiert den Ursprung gleich dreier Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam gründen auf der Gottesbegegnung Abrahams. In der biblischen Überlieferung fordert Gott Abraham auf, seine Heimat zu verlassen und in ein unbekanntes Land aufzubrechen. Abraham folgt diesem Ruf – im Vertrauen darauf, dass Gott ihn zum Stammvater eines großen Volkes machen werde. Immer wieder wird sein Glaube auf die Probe gestellt, doch Abraham bleibt gehorsam. Schließlich wird er – durch seine Söhne Isaak und Jakob – zum Ahnherrn des Volkes Israel.
Im Judentum gilt Abraham als Urvater, im Christentum gehört er zu den sogenannten Erzvätern, und im Islam wird er als Prophet verehrt. Dort gilt sein Sohn Ismael als Stammvater der arabischen Völker und damit der Muslime. Abraham verbindet drei der fünf großen Weltreligionen – und mit ihm eine fundamentale menschliche Erfahrung: die Angst, die Heimat zu verlieren. Man könnte auch sagen, er verkörpert das uralte Trauma der Vertreibung und des Neuanfangs in der Fremde.
Die Erfahrungen des Exils begleiteten Mascha Kaléko ein Leben lang:
„Ich schnüre meinen Bündel zur Reise
Nach uralter Vorväter Weise
Sie sprechen von mir nur leise
Ich bleibe der Fremde im Dorf“
(Gedicht: „Ich bleibe der Fremde im Dorf“)
Anfänge in Berlin
Mascha Kaléko wurde 1907 in Chrzanów, im damaligen Galizien, geboren. Früh musste sie mit ihrer Familie vor antisemitischen Pogromen fliehen: erst nach Frankfurt, dann nach Berlin. Dort wuchs sie im Scheunenviertel auf, einem Zentrum jüdischen Lebens – zwischen Armut, Intellekt und kulturellem Aufbruch. Bereits in den 1920er Jahren wurde sie zur Stimme einer neuen, urbanen Dichtung, deren leichtfüßige, zugleich nachdenkliche Lyrik die Großstadtatmosphäre der Weimarer Republik einfing: ironisch, alltagstauglich, pointiert.
Aus Trümmern gebaut: Kalékos Verse gegen das Vergessen.
Die Anfänge ihrer Karriere als Dichterin stellten zugleich ihren Höhepunkt dar. Ihr Debütband „Das lyrische Stenogrammheft“ wurde 1933 ein Bestseller – in manchen Jahren verkauften sich nur Goethes Gedichte besser.
Exil und Entwurzelung
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete Kalékos Karriere in Deutschland abrupt. 1938 emigrierte sie mit ihrem Mann und Sohn in die USA. In New York lebte sie als Deutschsprachige im Exil – isoliert von ihrer einstigen Heimat und ihrer Leserschaft.
„Gewiss, es bleibt dasselbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiss, ich bin sehr happy:
Doch glücklich bin ich nicht.“
(Gedicht: „Der kleine Unterschied“)
Die Sprache war ihr letztes Band zur Heimat, doch das Gefühl des Fremdseins blieb. Sie schrieb weiter, doch ihr Werk fand kaum Resonanz in der neuen Umgebung.

Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach
Rückkehr und Ernüchterung
1955 reiste Mascha Kaléko nach vielen Jahren des Exils allein zurück nach Europa. Der Moment der Wiederkehr berührte sie tief:
„Als ich Europa wiedersah
– Nach jahrelangem Sehnen
Da kamen mir die Tränen.“
(Gedicht: „Als ich Europa wiedersah…“)
Die Rückkehr war allerdings von Wehmut geprägt – das Berlin ihrer Jugend war nicht mehr wiederzuerkennen, die Freunde und Weggefährten verschwunden. Ihre Erinnerung an die Heimat blieb schmerzhaft lebendig, auch wenn das reale Berlin sie enttäuschte.
„Manchmal, mitten in jenen Nächten […]
Denke ich an den Rhein und die Elbe,
Und kleiner, aber meiner, die Spree.
Und immer wieder ist es dasselbe:
Das Denken tut verteufelt weh.“
(Gedicht: „Sozusagen ein Mailied“)
Eine Geschichte, die viele teilen
Mascha Kalékos Schicksal steht exemplarisch für die Erfahrung von Millionen. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte in Polen die größte jüdische Gemeinde der Welt. Der Holocaust vernichtete rund sechs Millionen jüdische Leben. Hunderttausende flüchteten – viele fanden keinen sicheren Hafen. Auch nach dem Krieg waren viele Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen – darunter rund 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten wie Schlesien, Ostpreußen und Pommern. Sie verloren ihre Heimat und mussten oft unter schweren Bedingungen neu anfangen. Diese Fluchtbewegung gehört zu den größten Vertreibungen der Geschichte.
„Es hörte ihn keiner weinen,
Er zog in die Wüste hinaus.
Sie warfen nach ihm mit Steinen.
Er baute aus ihnen sein Haus.“
(Gedicht: „Der Eremit“)
Diese Zeilen drücken aus, was viele erlebt haben: Schmerz, Ablehnung, Verlust – und dennoch die Kraft, aus den Trümmern etwas Neues aufzubauen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete 2023 die Geschichte Deutschlands im vergangenen Jahrhundert als „eine Geschichte des Exils“. Und auch heute sind Flucht und Vertreibung globale Realitäten – vom Ukraine-Krieg bis zu Konflikten in Nahost und Afrika.
Inmitten dieser geteilten Erfahrungen von Verlust und Entwurzelung drückt Mascha Kaléko mit poetischer Kraft das Verbindende aus – jenseits von Herkunft, Hautfarbe und Geschichte:
„Immer möchte ich dich leise fragen:
Weißt du, dass wir heimlich Schwestern sind?
Du, des Kongo dunkelbraune Tochter,
Ich, Europas blasses Judenkind.“

Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach
Heimat als Erinnerung, Liebe und Sprache
In ihren Gedichten fängt Mascha Kaléko das Verlorene und zugleich das Bleibende ein – das, was Heimat ausmacht, wenn äußere Orte zerbrechen: Erinnerung, Sprache, Liebe. Sie beschreibt das Gefühl, zwischen Welten zu leben, und findet ein „Zuhause“, das oft nur in der Sprache existiert.
„Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
Trank von dem Wasser, das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
Fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.“
(Gedicht: „Die frühen Jahre“)
Diese Worte spiegeln die Ambivalenz von Verlust und Trost wider. Kaléko wusste um die Härte des Lebens und den Schmerz des Abschieds, doch sie fand darin auch eine tiefe Menschlichkeit.
„Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“
(Gedicht: „Memento“)
Nach dem Verlust ihres Mannes und ihres Sohnes starb Mascha Kaléko 1975 in Zürich. Ihre letzte Ruhestätte liegt fern von Berlin – doch ihre Worte leben weiter. Sie sind eine Stimme für alle, die unterwegs sind, und ein poetischer Zufluchtsort für alle, die nach Heimat suchen.
In der Österreich-Bibliothek in Oppeln kann der Band „In meinen Träumen läutet es Sturm: Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass“ von Mascha Kaléko entliehen werden:
SOWA OPAC: Katalog centralny WBP w Opolu – In meinen Träumen läutet es Sturm: Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass